100 Jahre Bund für Geistesfreiheit Augsburg
Jubiläumsrede von Gerhard Rampp
Sehr geehrte Gäste, liebe Mitglieder des Bundes für Geistesfreiheit!
Am 6. Juni 1911 wurde von immerhin knapp 100 Personen eine neue weltanschauliche Vereinigung gegründet, die sich auf die Grundwerte der Aufklärung stützen und eine Alternative zu den dogmengebundenen Religionen bieten wollte. Dass sich in der klerikal geprägten Kaiserzeit derart viele Menschen zusammenschlossen, markierte allerdings keinen Startschuss in eine neue Ära, sondern zunächst das Ende eines langwierigen Gründungsprozesses. Schon in den 1880er Jahren wurde ein „Proletarischer Freidenkerbund“ ins Leben gerufen, der aber ebenso wieder verschwand wie der 1900 von bürgerlichen Liberalen gegründete „Goethe-Bund“. Erst als sich beide Gruppen ungeachtet der Standesunterschiede verbündeten, entstand ein dauerhafter Verband.
Die Bewegung, der die Augsburger Gruppe entsprang, ist allerdings deutlich älter. Sie geht auf die 1848er Revolution zurück und war vor allem in Baden und Rheinland-Pfalz stark, wo sich die Gruppen noch heute „Freireligiöse Gemeinden“ nennen. Genau diese Bezeichnung trugen die 1848/49 gegründeten Gruppen in Nürnberg und Fürth und die 1870 gegründete Gruppe in München. „Freireligiös“ meinte damals soviel wie „an ethische Werte gebunden“, war aber auch nicht ganz frei von Restbeständen der christlichen Traditionen. „Frei sei der Geist und ohne Zwang der Glaube“ war der Leitspruch der 48er-Revolutionäre – aber ein Glaube sollte es wohl schon noch sein. Davon konnte 1911 schon nicht mehr die Rede sein; der von einem Dr. Hager abgehaltene Moralunterricht an der Anna-Volksschule war durch und durch weltlich. Unser 1905 geborenes und 1997 gestorbenes Mitglied Angelika Eull nahm daran als Schülerin teil und erzählte mir, dass die Obrigkeit einen solchen Alternativunterricht damals gar nicht so gern sah. Immerhin reagierten die Behörden nicht mehr so brutal wie 50 Jahre früher, als sie den 15-jährigen Johann Most in Augsburg zu einer Woche Gefängnis verurteilten, weil er sich weigerte am Religionsunterricht teilzunehmen. (Kein Wunder, dass sich der spätere Sozialist mit dem noch heute berühmt-berüchtigten Buch „Die Gottespest“ revanchierte.) Es gab aber auch ein positives Gegenbeispiel durch einen aus Kitzingen kommenden Sohn eines Sattlers, der in Augsburg als typischer Selfmademan zuerst eine orthopädische Werkstatt und dann sogar eine ganze Klinik gründete. Dieser Friedrich von Hessing trat früh aus der Kirche aus und bekannte sich sein ganzes Lebens lang zum Atheismus. Ob er eingetragenes Mitglied der neuen freireligiösen Gemeinde wurde, ist nicht nachweisbar, wohl aber sympathisierte er mit ihr. Einer seiner Leitgedanken war der von Feuerbach geprägte Satz: „Tue Gutes um des Menschen willen.“ Als er 1918 starb, verärgerte er die Kirchen mit einer ganz ähnlichen Inschrift auf seinem Grabstein.
Der erste Weltkrieg beendete das Vereinsleben schon nach drei Jahren, und es blühte auch erst 1920 wieder auf. Bis 1930 wuchs die Vereinigung auf über 200 Mitglieder an und die Frau des SPD-Bürgermeisters Ackermann rezitierte sogar auf der Jubiläumsfeier 1931 Gedichte. Freilich nahm in den 20er Jahren die säkulare Bewegung bundesweit einen ungeheuren Aufschwung, weil sie eng an die SPD, die Naturfreunde, die sozialistische Jugendbewegung „Die Falken“ und die Gewerkschaft gekoppelt war, während auf der Gegenseite auch die katholischen Verbände und die Zentrumspartei straff organisiert und mit einem klaren Feindbild ausgestattet waren. Es ging um das Recht auf Feuerbestattung, eine eigene Bestattungskultur und die Auseinandersetzung zwischen Evolutions- und Schöpfungslehre. Damals hatte der Deutsche Volksbund für Geistesfreiheit sage und schreibe 780.000 Mitglieder, während nach dem Zweiten Weltkrieg die Mitgliederzahl aller säkularen und konfessionsfreien Verbände zusammen nie mehr auch nur in die Nähe des sechsstelligen Bereichs kam.
1933 wurde die Augsburger Gruppe von den Nazis aufgelöst und das gesamte Vermögen beschlagnahmt, das allerdings nicht übermäßig groß gewesen sein kann. Eine Reihe von Mitgliedern machte Bekanntschaft mit dem neu eingerichteten KZ in Dachau. (Es gab übrigens zu dieser Zeit nur ein weiteres KZ. Es lag in Schleswig-Holstein und wurde anfangs von der evangelischen Diakonenschaft betrieben, ehe es im Dezember 1933 an die SA übergeben wurde.) Im Gegensatz zu den jüdischen Gemeinden wurden die Freidenker und Freigeister übrigens nie für ihre Verluste entschädigt, u.a. weil die genauen Aufzeichnungen allesamt von den Nazis vernichtet wurden. Die Augsburger Freireligiösen formierten sich erst im Oktober 1950 wieder neu, wuchsen dann aber relativ rasch wieder auf knapp 100 Mitglieder. 1958 benannten sie sich um in Bund für Geistesfreiheit, was in Nürnberg schon 1926 geschah, in München hingegen erst 1991 – übrigens auf mein Betreiben hin. Ebenfalls 1958 folgte ein Ereignis, das bis heute negative Folgen hat: Die SPD näherte sich mit dem Godesberger Programm den Kirchen an und distanzierte sich aus taktischen Gründen mehr und mehr vom Bund für Geistesfreiheit, der gleichwohl noch längere Zeit von Teilen der SPD-Basis Zulauf hatte. Einer, der dem bfg 66 Jahre die Treue hielt, war das Gründungsmitglied Wilhelm Deffner, der erst 1977 im Alter von 106 Jahren starb und mehrere Jahre lang der älteste Sozialdemokrat Deutschlands war. Aber zu dieser Zeit wirkte sich das Problem des Nachwuchsmangels schon stark aus, und kurz vor 1980 stand angesichts von nur noch 54 meist überalterten Mitgliedern sogar schon die Auflösung zur Diskussion. Zum Glück kamen dann einige jüngere Mitglieder, die dann nach und nach Gleichaltrige ansprechen konnten, welche zunächst oft aus der damals sozialliberalen FDP (siehe deren Kirchenpapier von 1974) und später aus den Grünen kamen. Eine wichtige Rolle spielte der Bund für Geistesfreiheit Augsburg 1980 bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), 1995 beim Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und 1998 beim Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Stellung des Ethikunterrichts an Schulen. 1990 konnten wir unser 200. Mitglied begrüßen, und seither haben wir unsere Mitgliederzahl verfünffacht, wobei in den letzten Jahren viele Mitglieder der Linken und neuerdings auch eine Reihe von „Piraten“ eintraten. (Die Mehrzahl unserer Mitglieder gehört allerdings keiner Partei an.) Im August 2011 konnte der Bund für Geistesfreiheit Augsburg sein 1000. Mitglied begrüßen und damit die vierte örtliche Vereinigung von weltlichen Humanisten in Deutschland werden. Freilich ist dieser Zuwachs nicht allein unser Verdienst. Wir haben ja auch von der allgemeinen Zunahme der Konfessionslosen und von der Verbreitung des Internet profitiert. Objektiv sind wir immer noch zu klein um die Interessen der Konfessionsfreien wirksam vertreten zu können, aber wir werden geduldig und beharrlich daran arbeiten so groß zu werden, dass wir nicht mehr übersehen werden können.
Aber schon jetzt haben wir auch Stärken in die Waagschale zu werfen: Wir kennen unsere Grundsätze genau und wir wissen genau, was wir wollen.
Unsere Grundsätze beruhen auf denen der Aufklärung: Selbstbestimmung, Vernunft, Humanität und Toleranz. Mit „Humanität“ ist verantwortungsvolles soziales Handeln gemeint, was z.B. mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums und dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ verbunden ist. Toleranz gegenüber Andersdenkenden heißt: Wir treten ein für Religionsfreiheit und respektieren religiöse Überzeugungen, auch wenn wir sie nicht teilen. Allerdings verlangen wir einen gleichrangigen Respekt auch gegenüber unseren Überzeugungen und vor allem die Beachtung der allgemeinen Menschenrechte. Genau da liegt die Grenze der Religionsfreiheit wie jeder Freiheit: Andere dürfen nicht gegängelt werden. Wer religiös begründete Gesetze beachten will, mag dies tun. Wer aber andere unter dieses Joch stellen will, muss Widerspruch ernten. Das gilt für den Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit der Scharia genauso wie für den Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit christlicher Feiertage.
Weltanschauliche Toleranz beruht auf der Einsicht, dass letztlich niemand weiß, was in religiösen und metaphysischen Fragen „wahr“ ist. Das wissen die Gläubigen ebenso wenig wie die Ungläubigen. Als „nicht wahr“ kann all das gelten, was 1. in sich widersprüchlich ist, 2. den historischen oder 3. den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht. Aber in einer freien Gesellschaft darf selbst das nicht Wahre geglaubt werden; es wird allerdings kaum ernstgenommen werden. Ein ausdrückliches Verbot ist nur bei offenkundiger Schädlichkeit zulässig, z.B. bei Darbietung von Menschenopfern oder dem Meditationszwang bei Kleinkindern.
Soviel zum Wesen und zu den Grenzen der Toleranz. Der Bund für Geistesfreiheit ist also gegenüber Religionen durchaus tolerant, solange diese keinen Absolutheitsanspruch oder Vorrang geltend machen. Genau da liegt allerdings der Hase im Pfeffer, wie ich an einem Beispiel deutlich machen will: Die evangelische Kirche ist unstrittig deutlich weniger dogmatisch als die katholische. Sie kann sich sogar in ihrem höchsten Leitungsgremium, der EKD, noch nicht einmal darauf einigen, was zum Kernbestand des christlichen Glaubens gehört. Aber eines weiß sie ganz genau: Dass sie vom Staat bevorzugt zu behandeln ist. Sie biegt das grundgesetzliche Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates um in eine „fördernde“ oder „wohlwollende“ Neutralität. Dies ist ein Widerspruch in sich, den wir nie hinnehmen werden. Es gibt nur eine neutrale Neutralität oder gar keine! Und es gibt eine ganze Reihe von Vorschriften, die Konfessionsfreie benachteiligen: Konkordatslehrstühle, Ethik als Ersatzpflichtfach, Verbot von Vergnügungsveranstaltungen an Feiertagen, auch wenn sie fernab von Kirchen stattfinden, staatlicher Einzug des kirchlichen Mitgliedsbeitrags und vieles mehr. Vor zwanzig Jahren habe ich an dieser Stelle folgendes formuliert:
Die Protestanten reden schon jetzt vom "Zusammenbruch des volkskirchlichen Systems". Sie wissen warum, haben sie doch 1986 eine Studie veröffentlicht, wonach sich die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder in Westdeutschland bis zum Jahr 2030 halbieren könnte. Schon jetzt ist die Vormachtstellung der Kirchen, mag sie äußerlich auch noch intakt scheinen, ausgehöhlt (...) . Die politischen Parteien beobachten bereits aufmerksam die weltanschauliche Entwicklung, (...) testen auch schon die Reaktion der Wähler auf kirchenkritische Aussagen in ganz bestimmten Konfliktfeldern. Die Bereitschaft des Staates, den Kirchen weiter unter die Arme zu greifen, lässt spürbar nach. Man mag spekulieren, wie lange es noch braucht, bis die Abwanderungswelle zu (...) politischen Folgen außerhalb der Kirchen führt. Das kann schon in zwei Jahren mit der Harmonisierung in der EG kommen, es kann aber auch noch fünfzig Jahre dauern. Aber der Erdrutsch wird kommen. Und wir werden die sein, die das Kartenhaus zum Einstürzen bringen.“
Soweit das Zitat von damals. Allenfalls beim letzten Satz war ich wohl etwas optimistisch, denn das Kartenhaus wird nicht wegen uns einstürzen; allenfalls leisten wir einen kleinen Beitrag dazu. Aber sonst?
Seit 1990 haben die Kirchen ein Fünftel ihres Mitgliederanteils an der Gesamtbevölkerung verloren und sind von 73 auf 58 Prozent geschrumpft. Nur noch 52 von 100 Neugeborenen werden katholisch oder evangelisch getauft, aber 72 von 100 Verstorbenen gehören diesen Kirchen an. Bundesweit werden in 15 Jahren weniger als die Hälfte evangelisch oder katholisch sein.
Auch in Bayern sieht es nicht besser für die Kirchen aus. Seit der Volkszählung 1987 hat sich der Anteil der Konfessionsfreien und „Sonstigen“ von 9 auf 27 Prozent verdreifacht. Vor drei Jahren haben die Konfessionsfreien die Evangelischen überholt. Sie nehmen jedes Jahr um einen dreiviertel Prozentpunkt zu und werden in 20 – 25 Jahren sogar die Katholiken einholen.
Zusätzlich leiden beide Kirchen unter einer „qualitativen Auszehrung“, d.h. der Anteil der streng Gläubigen und Kirchentreuen unter den Kirchenmitgliedern nimmt ab – und damit beiläufig auch der Anteil der treuen CSU-Anhänger.
(Wohlgemerkt: Diese Einschätzung teilen auch die katholischen wie evangelischen Religionssoziologen, ebenso wie kürzlich der tiefgläubige Ex-Chefredakteur der AZ, Dr. Markus Günther. Das einzige, was an diesen ziemlich sicheren Prognosen noch strittig sein könnte, ist das Tempo des Zerfalls.)
Für die Parteien heißt das: Wer im schrumpfenden Wählersegment der Kirchennahen fischt, verliert Wähler, weil er gleichzeitig Kirchenferne abschreckt. Linke und Piratenpartei (mit Einschränkungen auch die Grünen) profitieren von ihrer säkularen Programmatik. Die CSU hat die erste Quittung schon bekommen und die Losung „50 % + X“ ersetzt durch „40 % + X“).
Für den Bund für Geistesfreiheit heißt dies: Die Volkskirche ist auch ohne unser Zutun ein Auslaufmodell. Aber den Abbau der kirchlichen Privilegien voranzutreiben, was den Staat beiläufig auch viel Geld spart – das ist unsere ureigenste Aufgabe. Und dafür brauchen wir Ihre Unterstützung und auch die von noch mehr Mitgliedern!