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Grundgesetz und Religion aus säkularer Sicht

Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Feuerbach-Preises 2023 an Gerhard Czermak durch den Bund für Geistesfreiheit Augsburg

Religionsrecht als ideologisch befrachtete Materie
Wer sich erstmals mit dem Religionsrecht bzw. Weltanschauungsrecht beschäftigt, wird bald feststellen: Diese Materie ist ideologisch hoch aufgeladen. Die Einhaltung der anerkannten Regeln der professionellen Rechtsanwendung ist bei ihr besonders stark gefährdet. Diese Regeln werden nicht selten und manchmal sogar dreist missachtet. Dabei hat J. W. von Goethe schon ganz allgemein das Dauerproblem der korrekten Ermittlung und Anwendung des Rechts einmal aphoristisch so skizziert:
Im Auslegen seid frisch und munter
Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.
Und Goethe wusste, was er sagte, denn er war selbst auch praktischer Jurist in der Weimarer Staatsverwaltung.
Den meisten Menschen fällt es schwer, auf die Verfolgung eigener Interessen und die Durchsetzung der persönlichen Ansichten und Grundüberzeugungen zu verzichten. Dieses natürliche Verhalten wird aber bei der Rechtsanwendung durch die öffentliche Gewalt fragwürdig. Denn die faire Behandlung der Mitmenschen als Rechtsgenossen erfordert eine grundsätzlich gleichberechtigte Berücksichtigung der legitimen Interessen und Überzeugungen Aller. Genauer: Die Rechtsordnung im modernen demokratisch-pluralistischen Staat muss die rechtliche Gleichheit der Bürger zum Ausgangspunkt der Rechtsetzung und Rechtsanwendung machen. Die unterschiedlichen ethischen und weltanschaulichen Vorstellungen der Bürger dürfen dabei keine Rolle spielen. Das setzt natürlich voraus, dass die für alle geltenden notwendigen Grundregeln wie Gewaltfreiheit eingehalten werden.

Historische und rechtshistorische Anmerkungen
Die Schwierigkeit, aber auch Notwendigkeit, diese Forderung nach Rechtsgleichheit und fairem Verhalten zu erfüllen, zeigt sich in den zahllosen Kriegen mit Beteiligung von Religion in Geschichte und Gegenwart. Sie werden meist besonders grausam geführt. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass dabei ihre Hauptursachen regelmäßig sozialer und politischer Natur sind. In Deutschland gab es jahrhundertelang religiöse und religiös aufgeladene gewalttätige Auseinandersetzungen. Der 1. Weltkrieg wurde durch zahllose scharfe Kriegspredigten christlicher Religionsführer befeuert. Mit seinem Ende fand auch der gemäßigte Glaubensstaat zumindest verfassungsrechtlich seinen Abschluss. Erstmals wurde, zusammen mit den bekannten Freiheiten moderner Rechtsstaaten, ein Staat wirklicher Religionsfreiheit begründet. Die großen Kirchen haben diesen demokratischen Staat in der Weimarer Zeit aber leider abgelehnt.
Nach 1945 hat vor allem die katholische Kirche alles getan, um Staat und Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu prägen.
Der Parlamentarische Rat wies 1949 als verfassungsgebende Versammlung auch massive katholische Forderungen zurück. In den Beratungen prallten in den kulturpolitischen Fragen, insbesondere des Schulwesens, die weltanschaulichen Gegensätze so unversöhnlich aufeinander, dass die Verfassung daran zu scheitern drohte. Der schließlich beschlossene Kompromiss, nämlich die Integrierung der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz, erwies sich langfristig als dauerhaft tragfähig. Heutzutage fällt aber auf, dass die einen für eine Beibehaltung der derzeitigen religionsrechtlichen Gesamtregelung im Grundgesetz sind, weil sie damit die Hoffnung auf weitere Aufrechterhaltung der problematischen Kirchenprivilegien verbinden. Die andere Richtung will die Regelungen des Grundgesetzes weitgehend erhalten, weil sie in ihnen, richtig verstanden, die Gleichheitsforderungen und das Neutralitätsgebot als theoretisch bereits erfüllt sehen. Sie befürchtet aus gutem Grund, dass jede Grundsatzerörterung die Gefahr einer Verschlimmbesserung in sich birgt.

Das Religions- und Weltanschauungsrecht im Grundgesetz und in der alten Bundesrepublik
Bei ideologisch unvoreingenommener und leicht nachprüfbarer Zusammenschau aller einschlägigen Verfassungsartikel ergibt sich:
Das GG konstituiert einen rein säkularen Staat mit gleicher Berechtigung von religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen. Inhaltlich nimmt die Verfassung nicht auf transzendente Vorstellungen Bezug. Die Präambel enthält eine Nennung, aber keine Anrufung Gottes. Sie spiegelt lediglich die Motivlage nach Beendigung des Naziregimes. Souverän des GG ist – und das steht ebenfalls in der Präambel - ausschließlich das „Deutsche Volk“. Im Übrigen ist das GG zwar gegenüber allen – friedlichen - Weltanschauungen positiv eingestellt und macht dabei auffällig keinen Unterschied zwischen religiösen und nichtreligiösen Sinnsystemen. Das ergibt sich unmittelbar schon aus Art. 4 I GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Das gilt nicht nur individualrechtlich, sondern auch für Vereinigungen: „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“ So steht es uneingeschränkt in Art. 137 VII WRV. Dieser ist, wie die anderen Weimarer Kirchenartikel auch, durch Art. 140 GG zum gleichberechtigten Bestandteil des GG geworden. Diese Gleichheit von religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen wird durch weitere Artikel des GG ergänzt und bekräftigt. Auf Differenzierungsmöglichkeiten wird nirgendwo hingewiesen.
Aus all diesen Vorschriften hat das BVerfG 1965 das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates abgeleitet. Das bedeutet, dass der Staat, das heißt alle öffentlichen Institutionen, nämlich Bundes- und Landesbehörden, die Gerichte, Parlamente und Kommunen religiöse und nichtreligiöse weltanschauliche Überzeugungen gleich behandeln, von Religion und Weltanschauung unabhängig sein müssen. Aber was ist daraus geworden?
Zur Rechtspraxis in der alten Bundesrepublik
Die Adenauer-Ära war unbestritten klerikal und eine Phase der „staatskirchenrechtlichen Euphorie“. Die Lehre vom Staatskirchenrecht, wie man das Rechtsgebiet des Verhältnisses von Staat und Weltanschauung bis etwa 2000 unzutreffend, aber fast allgemein bezeichnete, korrigierte zwar zu Recht die Weimarer Ansicht von der Existenz einer starken staatlichen Kirchenaufsicht. Im Übrigen schuf sie aber etwas völlig Neues: Die sogenannte herrschende Meinung überlagerte das Weimarer Trennungsgebot (Stichwort: Trennung von Staat und Kirche) durch das Prinzip der partnerschaftlichen Koordination, was noch heute nachwirkt. Man verstand sogar Staat und Kirche als rechtlich gleichrangige, einander partnerschaftlich zugeordnete Institutionen, wie die katholische Koordinationstheorie forderte. Daraus ließ sich mühelos das Erfordernis des Vertragsschlusses über behauptete gemeinsame, sich überschneidende Interessen ableiten. Die Verfassungslage und die rechtstatsächlichen Gegebenheiten erfordern im Staat der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aber keineswegs Staat-Kirche-Verträge, die in parlamentarische Gesetze transformiert werden. Denn auch die berechtigten kirchlichen Interessen können und müssen im staatlichen Recht von Gesetzgebung und Verwaltung von Amts wegen ohnehin berücksichtigt werden, wie die Interessen anderer gesellschaftlicher Gruppen und Einrichtungen auch.
Die Koordinationstheorie der Nachkriegszeit erreichte noch 1961 einen heute absonderlich anmutenden Gipfel: Der Bundesgerichtshof vertrat in einer Zivilsache folgende Ansicht: Das staatliche Recht gelte für die Kirchen nur dann, wenn es sich um Normen elementaren Charakters handele, die sich als Ausprägungen grundsätzlicher Postulate darstellen, die jedem Recht wesentlich und rechtsstaatlich unabdingbar sind. Aber das sollte nur für die beiden großen Kirchen gelten, nicht aber für die kleineren Religionsgemeinschaften, denen generell auch bei vorhandenem Körperschaftsstatus nur ein minderer Status zuerkannt wurde. Für diese in der Statusfrage damals weit überwiegende Meinung der Staatskirchenrechtler gab es aber keinerlei Anhaltspunkt im Grundgesetz: eine freie Erfindung.
Geradezu lächerlich wirkt ein Urteil des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs von 1954. Er vertrat die Ansicht, selbst die elterliche Duldung des Geschlechtsverkehrs zwischen Verlobten sei als Kuppelei zu bestrafen. Ich zitiere: „Die sittliche Ordnung will, dass sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist … Die unbedingte Geltung der ethischen Norm lässt keine Ausnahme zu.“ Leider hat sich auch das Bundesverfassungsgericht dem allgemeinen Zeitgeist nicht entzogen, indem es in seinem bekannten Konkordats- Urteil von 1957 nebenbei und zur Entscheidungsbegründung völlig überflüssig die Ansicht vertrat, der Zwang zum Besuch von Bekenntnisschulen verstoße nicht gegen die Glaubensfreiheit. Der Staat könne nämlich nicht allen Eltern eine ihren weltanschaulichen Wünschen entsprechende Schule zur Verfügung stellen. Das heißt im Klartext so gut wie: Art. 4 GG gilt in der staatlichen Schule allenfalls stark eingeschränkt. Das war ein gewichtiges Zeichen der Unterstützung der ohnehin kirchengeneigten Verwaltung und Rechtsprechung. [ Der Bayerische Verfassungsgerichtshof vertrat noch 1967 die Meinung, wenn Katholiken in eine evangelische Bekenntnisschule gehen müssten, verstoße das klar gegen die Glaubensfreiheit und umgekehrt, während aber bei Nichtchristen der Gedanke der Nichtmajorisierung von Grundrechten „Schranken kraft unserer demokratischen Grundordnung“ habe. Denn die Ausmerzung des christlichen Geistes aus der Schule verletze das Grundrecht christlicher Eltern. Das war auch damals eine juristische Ungeheuerlichkeit. ] Der Rechtsgelehrte Hans Heinrich Rupp stellte 1969 rückblickend fest: „Die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung, vom Grundgesetz en bloc rezipiert, wurden mit Hilfe höchst fragwürdiger und bis dahin in der Rechtswissenschaft unbekannter Methoden mit neuen Inhalten gefüllt und dem neuen staatskirchenrechtlichen Verständnis dienstbar gemacht. Diese Umdeutung fand in atemberaubender Schnelligkeit allgemeine Anerkennung und Eingang in die gesamte Staatskirchenrechtslehre und die Rechtsprechung.“
Juristische Neuorientierung bei anhaltender Kirchenprivilegierung
1965, insbesondere mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur weltanschaulich-religiösen Neutralität und zum Privilegierungsverbot (Urteil zur Badischen Kirchenbausteuer), trat eine teilweise religionsrechtliche Ernüchterung ein. Kaum ein Universitätsjurist wagte es noch, die Bundesrepublik für einen christlichen Staat zu halten. Die Staatsrechtslehrertagung 1967 stand unter dem Motto „Die Kirchen unter dem Grundgesetz“. Die Rechtspraxis verhielt sich aber, vielfach bis zum heutigen Tag, so, als ob neutrales Verhalten gegenüber kleinen Religionsgemeinschaften oder gar Nichtreligiösen unnötig sei.
Die Kirchen wurden auf allen Ebenen bevorzugt behandelt: Im Schulwesen, in der Universitätstheologie, im Steuerrecht, bei Militär und Polizei, beim staatlichen Arbeitsrecht, in diversen öffentlichen Institutionen, etwa im Rundfunk, bei den Staat-Kirche-Verträgen und anderem . Unerfüllt ist die seit 1919 gebotene Ablösung bzw. seit langem fällige Beendigung der historischen Staatsleistungen. Ein besonderes Problem ist die direkte und indirekte finanzielle Subventionierung insbesondere der großen Kirchen. Die öffentliche Hand leistet sie freiwillig nach Gutdünken. Ich nenne beispielhaft zunächst die Kirchentage, die die Gemeinden, Bundesländer und der Bund großzügig mit Millionenbeträgen fördern. Bisher waren darunter auch Städte, vor dem finanziellen Abgrund standen. Gefördert werden die Kirchen nach wie vor auch etwa durch Befreiung von öffentlichen Gebühren, Finanzierung der Militärseelsorge einschließlich von Kostenanteilen für Soldatenfreizeiten und Pilgerreisen, durch Bauzuschüsse, Zuschüsse für die Auslandsmission, Hilfe bei Autobahnkirchen, Bevorzugung bei der Auswahl von Sonderbriefmarken usw. usf.
Besondere Erwähnung verdient der kirchliche Lobbyismus in Bund und Ländern. Seit Jahrzehnten haben die Kirchen ohne rechtliche Grundlage jederzeit Zugang zu den Regierungsspitzen und den höchsten Beamten. Bereits im Vorfeld von Gesetzesvorhaben werden die Kirchen von der jeweiligen Bundesregierung einbezogen, auch bei fehlender direkter Betroffenheit. Das ist eine besonders privilegierte Form des ohnehin ausufernden gesellschaftsschädlichen Lobbyismus. Wie weit die Politik geht, um selbst niederrangigen kirchlichen Interessen entgegenzukommen, zeigt die Änderung des Einkommensteuerrechts im Jahr 2000. Auf Drängen der beiden großen Kirchen verabschiedete der Bundestag wegen der Anbindung der Kirchensteuer an die Einkommensteuer ein Gesetz zur Bemessungsgrundlage. Einziger Sinn der beschlossenen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage war die Vermeidung der Erhöhung des Kirchensteuer-Hebesatzes von 8 bzw. 9 %. Die Kirchensteuer konnte betragsmäßig steigen, der allein sichtbare Hebesatz aber gleichbleiben. Das Einkommensteuerrecht wurde weiter verkompliziert. Dabei war der Bund für Kirchensteuern gar nicht zuständig. Das alles nur, damit die Erhöhung der Kirchensteuer verschleiert werden konnte und die Kirchen keinen eigenen Steuertarif entwickeln mussten.
Die Problematik der kirchennützigen Verhaltensweisen geht so weit, dass sich das Bundesverfassungsgericht 2011 anlässlich des Papstbesuchs von Benedikt XVI. nicht scheute, dem Papst im Priesterseminar von Freiburg seine Aufwartung zu machen.
Ein aktuelles kirchlich orientiertes Handbuch des „Staatskirchenrechts“
Interessant ist die nach etwa 25 Jahren im Jahr 2020 erfolgte vollständige Neuausgabe des „Handbuchs des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland“ mit nicht weniger als 3417 Seiten, an dem 73 Autoren mitwirkten, darunter sowohl eine große Zahl bekannter Juraprofessoren wie auch kirchlicher Mitarbeiter oder sonst kirchennahe Verfasser. Das Werk weist immerhin eine riesige Informationsfülle auf und enthält auch recht kritische Einzelpositionen. Es spiegelt die heutige verstärkte Hereinnahme des Religionsrechts in den allgemeinen verfassungsrechtlichen Diskurs. Viele Beiträge sind wertvoll. Aber insgesamt sind sie kein beispielhafter Ausdruck der von Mitherausgeber Germann so eindringlich beschworenen juristischen Methode. Ihr zufolge müsse sie von religiös-weltanschaulichen Prämissen unabhängig sein. Nicht ohne Grund wurde der verhältnismäßig sehr niedrige Preis durch Zuschüsse des Verbands der Diözesen Deutschlands und der Evangelischen Kirche in Deutschland ermöglicht. Inhaltlich fällt auf, dass zwar stets die gleiche Berechtigung von Religion und Weltanschauung und der dazugehörigen Gemeinschaften verbal gefordert, ihre Einhaltung aber meist nicht konkret geprüft wird. Selbst die stark gewachsene nichtreligiöse Bevölkerung und die fast dramatisch geschwundene gesellschaftliche Akzeptanz der großen Kirchen bewirken bisher freilich kaum eine kritische religionspolitische Distanz zu bisherigen Positionen. Das Neutralitätsgebot ist immer noch unerfüllt. Dabei ist religiös-weltanschauliche Neutralität gerade in einer pluralistischen Gesellschaft eine große kulturelle Errungenschaft.
Mit dieser Aussage beende ich meinen kleinen Einblick in die Materie des Religionsrechts und der Religionspolitik.

Gerhard Czermak, Augsburg, 9.11.2023


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